9
Justin brachte sie in ein jenseits von German Village gelegenes heruntergekommenes Viertel an der East Side. Vom Dach eines mit Brettern vernagelten Hauses aus sahen sie auf ein Abrissgrundstück herunter. In einem Verschlag aus Abfallholz und Altpappe kauerten zwei dunkle Gestalten.
»Lass sie zur Ruhe kommen«, sagte Justin, »dann schleichen wir uns vorsichtig an. Ich lulle sie etwas ein, und um genau mitzubekommen, wie ich das mache, öffnest du dein Bewusstsein für mich.« Stella nickte. Die Vorstellung dieser gedanklichen Nähe zu Justin bereitete ihr noch Unbehagen. »Du hältst dein Bewusstsein weiter offen. Wenn ich Stopp sage, hörst du sofort auf zu trinken. Schließlich soll deine Einführung in die Kolonie nicht zur Anweisung zum Töten missraten.«
»Ist die Gefahr groß, jemanden dabei umzubringen?« Allein bei dem Gedanken wurde ihr angst und bange.
»Nicht wenn du weißt, was du tust.«
Bis jetzt wusste sie das nicht. »Wie lange dauert es denn bis dahin?«
Er blickte in die Nacht hinaus, dann auf die menschlichen Gestalten zu seinen Füßen. »Keine vier oder fünf Minuten. Und merk dir eins: Nach dem Trinken musst du sämtliche Erinnerungsspuren im Bewusstsein deines Opfers löschen. Nur so bleiben wir unbemerkt.«
»Wie gehe ich dabei vor?«
»Halte dein Bewusstsein weiter für meines offen. Dann erfährst du es automatisch.«
Wenn sie die Geschehnisse der letzten Tage bedachte, hatte sie nicht den geringsten Zweifel daran.
Sie saßen, gespannt und abwartend, auf dem baufälligen Dach, während sich die beiden Landstreicher zum Schutz vor dem Novemberwind mit mehreren Lagen Zeitungspapier zudeckten. Justin drückte ihre Hand. »Öffne dein Bewusstsein«, sagte er. »Gut. Es dauerte nicht mehr lange. Mach genau, was ich dir sage.«
Den letzten Satz brauchte er nicht auszuprechen. Es war nicht das erste Mal, dass er in ihr Bewusstsein eindrang, aber dieses Mal öffnete sie sich ihm komplett, als gäbe sie sich ihm voll und ganz hin. Der Gedanke ängstigte und erregte sie, bis er sie beruhigte. Sie war nun präsent und bereit für seine Anweisungen.
Sie kletterten an der rückwärtigen Wand des Hauses herunter; Stella wartete im Schatten der Dunkelheit auf ein Zeichen Justins, um ihm dann zu folgen. Er ging neben einem der schlafenden Bündel in die Hocke; sie hockte sich zu dem anderen. Justin hatte tatsächlich nicht übertrieben. Sein ganzes Wissen und die im Lauf von Jahrhunderten gesammelte Erfahrung gingen auf sie über. Sie konnte ihr Opfer mit einem Zauber zu belegen, sodass es in einen tiefen Schlaf versank.
Sie wusste, wo genau sie den Biss ansetzen musste, strich das lange Haar zur Seite, um die Haut bloßzulegen. Dann schob sie, genau wie Justin es ihr vormachte, einen Arm unter die Schulter des Mannes und hob ihn an, bis sein Kopf nach hinten fiel und der Hals vor ihren gierigen Zähnen freilag.
Sie biss zu, beherzt und ohne zu zögern, als hätte sie schon immer fremde Hälse angeknabbert. Anfangs trank sie nur langsam, nicht gewöhnt an den warmen Blutstrom auf ihrer Zunge, bis der süße Geschmack menschlichen Lebenssafts sie überwältigte wie ein Glas Wein auf leeren Magen. Nun trank sie in vollen Zügen. Dies war ein Fest für Götter, ein Bankett für Unsterbliche. Nur leider musste sie aufhören, um ihr Opfer nicht zu sehr zu schwächen. Nur ungern ließ sie von ihm ab und leckte, auf Justins Wink hin, mit der Zunge über die Wunde, um sie zu versiegeln.
Ihm die Erinnerung zu nehmen, dauerte nur noch wenige Sekunden. Dann deckte sie den Mann wieder mit seinen alten Zeitungen und der zerrissenen Steppdecke zu. Justin reichte ihr noch ein Bündel Geldscheine, die sie dem Mann in die Tasche steckte.
Mehr war nicht dabei? Justin und Dixie hatten recht gehabt. Es ging ganz leicht. Nur von der unbändigen und berauschenden Energie, die durch ihren Körper tobte, hatten sie nicht gesprochen. Stella federte ständig auf und ab, sprang von einem Bein auf das andere, ehe sie sich Justin zuwandte. Seine Lippen waren blutverschmiert, und seine dunklen Augen loderten hell wie Feuer.
Er reichte ihr ein gefaltetes Leinentaschentuch. »Nach dem Trinken sollte man sich immer den Mund abtupfen.«
Als sie es ihm zurückgab, berührten sich ihre Hände. Seine Finger schlossen sich um ihre und hielten gleichzeitig das Taschentuchknäuel umfasst. »Solltest du dir nicht auch den Mund abwischen?« Es klang eher so, als würde sie Sam nach einem Teller Spaghetti ermahnen; dabei war es Nacht, und sie wandte sich nach einer köstlichen Blutmahlzeit an einen Großvampir. Einen Großvampir, der ebenso erregt war wie sie. Das wusste sie, so sicher wie sie ihren Namen und den Geschmack von Menschenblut kannte.
Justin lockerte seinen Griff. Stella löste ihre Hand aus seinen Fingern, trat näher heran und tupfte Justins Lippen ab. Ein Beben stieg aus ihrer Brust in die sich zusammenziehende Kehle, als sich seine Lippen gerade so weit öffneten, dass sie einen Blick von seinen Fangzähnen erhaschen konnte, ehe sie wieder verschwanden. Mit der Zunge ertastete sie ihre eigenen Eckzähne, die eben in diesem Moment zurücktraten. Nun gab es kein Zurück mehr. Sie hatte die Grenze zwischen Mensch und Vampir überschritten, war nun endgültig eine Kreatur der Nacht. Bei dem Gedanken durchfuhr es sie siedend heiß. Sie würde nie wieder frieren, nie wieder müde oder krank werden und niemals sterben. Wunden und Verletzungen aller Art würden sofort verheilen. Sie war ein Vampir, ein Wiedergänger, unsterblich.
In ihren Adern pulsierte die ungestüme Wildheit der Ahnen. Heftiges Verlangen erschütterte jede Zelle ihres Körpers, wobei ihr Bewusstsein mit dem Justins verschmolz. Er kannte ihre Begierden. Sein Verlangen wurde ihres. In seinen Augen erstrahlte die Lust, die in ihrer Seele widerhallte.
Sie sank in seine Arme. Eine Berührung seiner Lippen genügte, und ihr Mund öffnete sich. Sein erster Kuss war sanft, unsicher, beinahe zögerlich. Der zweite traf sie wie ein Feuersturm. Sie hob buchstäblich ab, umfangen von seinen Armen, den Kopf nach hinten geneigt, als seine Zunge nach ihrer suchte. Hitze, Sehnsucht und Verlangen stiegen in ihr auf wie ein wilder Brand. Ihr Wunschdenken und ihre sterblichen Fantasien waren nichts dagegen, Schatten im Vergleich mit den Empfindungen, die sie nun durchströmten. Sie umklammerte ihn jetzt, brauchte ihn und alles, was er ihr bieten konnte. Die Ewigkeit war zu kurz, um Justin zu lieben, sein Haar zwischen ihren Fingern zu spüren und für den Tanz ihrer Zungen. Sie drückte sich an ihn, ihre Brüste an seine Brust und seine Erektion gegen ihren Bauch gepresst.
Ohne das Bedürfnis, Luft holen zu müssen, küssten sie sich weiter, voller Hitze und einer Leidenschaft, die ihre Körper in rasendem Verlangen auflodern ließ. Sie verlangte danach, ihn in sich zu spüren, sehnte sich nach nackter Haut, nach der Berührung seiner Hände, ehe sie ihren Körper endgültig in Besitz nahmen. »Hier nicht.« Er war in ihrem Bewusstsein, und sie jubelte innerlich. Zwischen ihnen beiden würde es nie ein Missverständnis geben. Sie waren eins in ihren Gedanken, Bedürfnissen und Sehnsüchten.
Sie beklagte sich, wenn auch nur kurz, als er den Kuss abbrach. »Komm«, sagte er und nahm sie bei der Hand. »Zeit für einen Geschwindigkeitstest. Lass uns laufen!«
Hand in Hand rasten sie los, vorbei an schlafenden Häusern und zugenagelten Ruinen und durch nahezu leere Straßen. Sie rannten quer durch die Innenstadt, übersprangen parkende Autos, schnellten in die Höhe, um die Unterseite einer Eisenbahnbrücke zu berühren, bis sie schließlich die Stadt hinter sich ließen und sich auf dem freien Land befanden. Über ihnen wölbte sich der Himmel wie ein mit Sternen besprenkelter Baldachin, und neben ihr stand der Mann, der ihre wildesten Träume wahr werden ließ.
»Siehst du den Hain am Ende des Felds da drüben?« Sie sah ihn – wenn er denn jene Ansammlung von Bäumen meinte, die wie dunkle Knochengerüste in der Landschaft lauerten. »Direkt dahinter ist eine kleine Anhöhe. Wie wär’s mit einem kleinen Wettrennen?«
Er rannte los, und sie folgte ihm dicht auf den Fersen. Irgendwann hielt sie ihn am Mantel fest, der ihm prompt abhanden kam. Er lachte und schnappte sich darauf ihren Mantel, warf ihn in die Luft, während er seinen wieder auffing und weiterrannte. Als sie ihn aufholte, wartete er auf sie und nahm sie in die weit geöffneten Arme. »Du bist mein. Das weißt du auch, nicht?« Stella nickte; seine Worte trieben ihr Verlangen in fiebrige Höhen. »Ich habe dich zum Vampir gemacht, Stella, und nun mache ich dich zur Meinen für immer und ewig.«
Sie wollte, nein, verlangte danach, zu ihm zu gehören. Sie war sein, und beide waren sie eins. Sein Verlangen strömte durch ihre Adern, und ihr Begehren war so klar wie der Nachthimmel über ihnen. Sie legte die Hand auf seine steinharte Brust. In einem Anfall wilder Lust riss sie sein Hemd auf und presste ihr Gesicht gegen die nackte Haut. Sie spürte sein weiches Brusthaar an ihrer Wange, während sie den Duft wahrer Männlichkeit aufsog. Sie stöhnte leise auf und hob den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen.
»Stella.« Er zog ihren Namen seufzend in die Länge.
Vollends im Einklang mit ihrer und seiner Lust zog ihm Stella das Hemd aus und zerrte an seinem Ledergürtel. Atemberaubend schnell, wie es nur Kreaturen der Nacht können, zogen sie sich gegenseitig aus. Ihre Kleider fielen zu Boden. Er stieg aus seiner Hose und warf die Schuhe von sich. In Windeseile waren sie nackt, und ebenso schnell hatte Justin ihre Mäntel auf dem Boden ausgebreitet.
Im Mondlicht stand er wie ein Bild von einem Mann vor ihr, seine Erektion ragte als das Zentrum seiner Lust hoch vor ihr auf. Ein leiser Schmerz in ihr verlangte danach, von dem Vampir Justin Corvus genommen zu werden. Das in seinen Augen brennende Feuer machte sie schier wahnsinnig vor Lust.
Er küsste sie abermals, bis ihr die Sinne schwanden, und trat dann zurück, um sie von oben bis unten anzusehen, als hätte er niemals zuvor eine nackte Frau gesehen. Er umfasste mit beiden Händen ihren Kopf, streichelte ihr seidenweiches Haar. Dann glitten seine Finger vom Kopf zu ihrem Nacken hinunter, streichelten zärtlich über ihre Schultern hinweg, bis er ihre Brüste in seinen Händen wog.
Seine Berührung entfachte ein Feuer in ihr, und ihr ganzer Körper schmerzte vor Verlangen. »Justin!«, stöhnte sie.
Er lächelte zu ihr hoch, während seine Hände über ihren Bauch und tiefer glitten. Aber ihr war nicht mehr nach einem zärtlichen Vorspiel zumute, nur mehr der pure, animalische Akt konnte ihr Verlangen stillen.
»Ich weiß«, sagte er. »Bald.«
»Sofort!« Sie schrie es förmlich hinaus.
Er drang in sie ein, hart und tief, und ihr brennendes Verlangen feuerte seine Begierde an. Wie von einer übernatürlichen Kraft gezogen, näherte sie sich allmählich dem Höhepunkt und kam schließlich, begleitet von einem wilden, archaischen Schrei, während Justin seine Leidenschaft in sie ergoss.
Nach einer Weile glitt er zur Seite, strich ihr die Haare aus dem Gesicht und grinste. »Zufrieden?«
Zufrieden? Mehr als sie es sich in ihren wildesten Fantasien erträumt hätte. Ihr Körper bebte noch immer vor Lust, und das Gefühl würde sie ihr ganzes Leben lang nicht mehr vergessen. »Das will ich aber auch verdammt hoffen!«, knurrte er sie an, und seine Stimme klang eindeutig verärgert. In ihrer Euphorie hatte sie vergessen, ihre Gedanken abzuschirmen. »Vergiss die Normalsterblichen. Du bist jetzt ein Vampir und gehörst mir.«
Sein letzter Satz erfüllte sie mit einem Schauer des Glücks und der Vorfreude. Sie nahm ihn fest in die Arme und schloss die Augen, um seinen Duft, den Duft eines Mannes nach der Liebe, noch intensiver zu spüren. Sie war nackt, mitten auf dem freien Feld, weit entfernt von zu Hause, und hatte sich doch nie in ihrem Leben zuvor so sicher und beschützt gefühlt. »Ich könnte gut und gerne in die zweite Runde gehen«, sagt er, »aber wir müssen zurück. Du musst dich ausruhen, weil du ja morgen früh unbedingt zur Arbeit willst, um zu kündigen.«
»Dabei bin ich überhaupt nicht müde.« Im Gegenteil.
»Natürlich nicht. Du hast getrunken und damit Kraft getankt, und Sex weckt die Kräfte erst richtig, aber das Tageslicht zehrt doch gewaltig, und du bist auf jede kleinste Reserve angewiesen.«
Sie konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder zu ermüden. Justin stand im Mondlicht vor ihr, wie ein Gott aus fernen Zeiten. Und er gehörte ihr. Sie schwelgte in einem Moment purer egoistischer Freude. Selbst in ihren kühnsten Teenagerträumen hätte sie sich einen Justin Corvus nicht einmal vorzustellen gewagt. Sie stützte sich auf einen Ellbogen und gestattete sich einen Blick auf seine kräftigen Beine und seinen strammen Po, als er sich gerade umdrehte, um ihre verstreuten Kleider aufzusammeln. »Justin!« Sie war in Sekundenschnelle auf den Beinen. Sein Rücken war voller blutiger Kratzer.
»Was denn?«
Sie befühlte die größte Wunde. »War das …?« Doch wohl nicht? Gewiss, sie war nicht zimperlich gewesen, aber … Er drehte sich um und tupfte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ja, das warst du, Liebes. Wir Vampire packen schon mal etwas fester zu. Du musst dich an deine Kräfte erst noch gewöhnen.«
»Justin, ich wollte dir nicht wehtun«
Sein Lachen hallte durch die klare Winternacht. »Keine Ursache, verheilt eh schon wieder.«
Es fiel ihr schwer, das zu glauben und sie trat näher heran. Die Wunden schlossen sich und verheilten tatsächlich, während sie zusah – natürlich, wenn sein Körper gleich mehrere Schusswunden problemlos wegsteckte, dann waren Fingernagelkratzer eine Lappalie.
»Bist du jetzt beruhigt?« Er nahm ihre Hand. »Ein paar Kratzer sind ein geringer Preis für die Ekstase, die du mir geschenkt hast.«
»Ich meine doch, das Vergnügen war durchaus gegenseitig.«
Er lachte auf. »Bei Abel! Das will ich doch glauben! Ich brauche dich, Stella, und ich hoffe bei der Güte des Himmels, du wirst mich auch immer brauchen.« Er zog sie zu sich heran. Sie war als Frau stark genug, um zu akzeptieren, dass ein ganzer Mann wie Justin sie brauchte, wagte aber nicht an den umgekehrten Fall zu denken. Die Nacht war zauberhaft, was auch immer der Morgen bringen würde, und im Moment wollte sie partout nicht daran denken, wie lange dieses von ihm abgesprochene »immer« wohl währte.
Sie zog sich in Windeseile an, schneller als sie es je für möglich gehalten hätte, und trotzdem war er vor ihr fertig. »Wir lassen uns Zeit für den Rückweg«, sagte er. »Was sollen wir wie wahnsinnige Wiedergänger durch die Gegend laufen.«
»Ein bisschen wahnsinnig waren wir ja gerade schon, oder? Ich habe mich nie so getrieben gefühlt.«
»Ich treibe dich bald wieder in den Wahnsinn«, versprach er, während er ihr in den Mantel half. Er nahm sie an der Hand. »Komm jetzt, wir haben ein gutes Stück Weg vor uns.«
»Wo genau sind wir eigentlich?«
»Ungefähr fünfzehn Kilometer nördlich von Jeffersonville.«
»Du weißt, wo wir sind?«
»Natürlich. Ich würde doch nie so weit laufen, ohne mich auszukennen.« Er zuckte mit den Schultern. »Außerdem wollte ich genau das richtige Plätzchen für unser erstes Mal.«
Und wenn sie an den Vollmond dachte, die Sterne und die Stille der Nacht, hatte er dabei wirklich ein gutes Händchen bewiesen. »Hast du auch für das gute Wetter gesorgt?«
Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, das Wetter kann ich nicht beeinflussen. Wenn ich das könnte, würde ich eine anhaltende Wolkendecke für dich bestellen.« Er gab ihr ein Extraküsschen. »Gehen wir.«
Sie liefen gleichmäßig dahin, zunächst querfeldein über die brachliegenden Äcker, dann an der Autobahn entlang; dort lieferten sie sich Wettläufe mit den Lastwagen, die sie natürlich gewannen, bis Justin, kurz vor den Außenbezirken von Columbus, darauf bestand, das Tempo zu drosseln. Sie überquerten die High Street in Richtung German Village, und als sie am Schiller-Park vorbeikamen, bemerkte Stella gelbes Flatterband von der Polizei, das sie blitzartig hinter sich ließen; wenige Minuten später standen sie vor ihrer Haustür, wo sie in Kürze wie ein Teenagerpärchen auseinandergehen sollten.
»Bei den ersten Anzeichen der Dämmerung bin ich wieder hier«, sagte Justin und küsste sie. »Geh jetzt rein.«
Nichts lieber als das. Sie musste unbedingt nach Sam sehen. Wusste der Himmel, wie spät es überhaupt war. Justin wartete auf dem Weg zum Haus, bis sie die Tür hinter sich zugemacht hatte. Stella wartete in der Diele und lauschte seinen Schritten, die auf dem Gehweg verhallten.
Justin hätte am liebsten einen Freudentanz auf den Dächern vollführt, begnügte sich aber mit einem Tempolauf durch die Straßen. Wieso sollte er unnütz Energie verschwenden, wenn er morgen Abend wieder Stella zu Willen sein durfte … oder vielmehr später heute. Er fühlte sich so leicht und ungestüm wie ein junger Heißsporn nach dem ersten Glas Wein, so verwegen wie nach der ersten Schlacht und glücklicher als überhaupt in seinem ganzen langen Leben. Nicht nur dass Stella ihm unendliche Freuden geschenkt hatte, nein, sie hatte auch die Leere und Schmach getilgt, die Gwylthas Treuebruch in ihm hinterlassen hatte. Er wünschte Gwyltha und Vlad alles Glück dieser Welt. Nun besaß er Stella. Was konnte Mann oder Vampir sich mehr wünschen?
Justin übersprang das Eisengatter und nahm den Gartenweg vor Kits Haus in zwei Sätzen.
»Du siehst mehr als zufrieden aus«, sagte Kit, während Justin die Tür zumachte. »Ich nehme an, man kann dir gratulieren.«
»Und ob.« Justin ließ sich in den Ohrensessel gegenüber von Kit fallen.
Kit nickte. »Auf die Gefahr hin, diesen Moment mit Alltagskram zunichte zu machen«, begann er.
»Mit welchem Alltagskram?«
»Vlad war während deiner Abwesenheit hier.« Justin nickte und wartete ab. »Um eine Nachricht von Gwyltha auszurichten.«
»Und? Wer kommt alles?« Nicht so viele, wie wenn sie zu Hause wären, immerhin. Aber außer Vlad würde sie noch jemand anderen mitbringen, kein richtiges Mitglied der Kolonie.
»Toby und noch ein paar andere, aber ich glaube nicht, dass das Grund für seinen Besuch war.«
Kits Zögern und sein komplett abgeschottetes Bewusstsein alarmierten Justin. »Warum ist er dann gekommen?«
»Hat er nicht gesagt, nur dass er zu einem Zeitpunkt wiederkommen will, der dir passt. Es geht wohl um geschäftliche Dinge.«
»Was sollte ich schon mit Vlad Tepes geschäftlich zu tun haben?«
»Vielleicht hast du ihn ja mit deinem Verhandlungsgeschick beeindruckt?«
Justin schnaubte. »Verhandeln! Der kann mich mal.« Aber die alte Feindschaft wollte sich kaum wieder einstellen. Er war zu sehr erfüllt von neuer Freude, als dass ihn die Vergangenheit noch gekratzt hätte. Sollten Gwyltha und Vlad auch nur halb so glücklich zusammen sein wie er mit Stella, gönnte er ihnen das von ganzem Herzen. Er hatte Gwyltha ja nun wirklich sehr geliebt, und der Schmerz über ihren Verlust hatte Jahrzehnte an ihm genagt. Stella jedoch mit ihren strahlenden Augen und ihrer beherzten Zuversicht hatte die Geister der Vergangenheit endgültig vertrieben. Justin seufzte auf. »Über kurz oder lang werden wir wissen, was er will.«
Auch für eine Vampirsfrau hatte ein Montagmorgen nach wie vor seine Tücken. Sam konnte seinen Schulranzen nicht finden, und als er endlich unter Dixies Sachen auftauchte, fiel ihm ein, dass er noch zwei leere Joghurtbecher für die Biologiestunde mitbringen sollte. Ein Joghurt gab es noch im Kühlschrank, aber der war nicht nach seinem Geschmack. Also kippte sie ihn in ein leeres Konservenglas, während Dixie den leeren Becher vom Abend zuvor aus dem Abfall fischte. Stella spülte und trocknete beide, und Sam packte seine Sachen zusammen. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig bis zur Bushaltestelle, und sobald Sam seinen Platz im Bus eingenommen hatte, fuhr Stella los, um in der Village Laundry zu kündigen.
Justin hatte es vorausgesagt. Bei Tageslicht zu arbeiten, wäre unmöglich gewesen; sie fühlte sich ja jetzt im Licht der Morgensonne schon schwach. Leider wusste Stella nur allzu gut, dass ihre Kündigung sowohl für ihre Kollegen wie für die Betreiber des Ladens problematisch sein würde. Sie hatten es ihr eigens ermöglicht, zu arbeiten, wenn Sam in der Schule war, und sich nie darüber beklagt, wenn sie zu Hause blieb, weil er krank war. Sie würde sie sitzen lassen, und sie hasste das. Aber es musste sein. Sie öffnete die Tür, grüßte Annie, eine ihrer Kolleginnen, und ging nach hinten ins Büro.
»Kündigen?« Der alte Mr Lynch sah aus wie kurz vor einem Herzanfall.
Stella kämpfte mit ihren Schuldgefühlen. »Tut mir ja wirklich leid, aber etwas ist dazwischengekommen.«
»Mehr haben Sie uns nicht zu sagen?«
»Es ist alles ein bisschen schwierig. Ich habe ja gerne hier gearbeitet, und Sie haben es immer so gut mit mir gemeint, wegen Sam und überhaupt, aber es geht einfach nicht mehr.«
»Wir kommen natürlich jedem Konkurrenzangebot entgegen.«
Jetzt fühlte sie sich noch mieser. »Um Geld geht es nicht. Ich habe einfach eine Stelle gefunden, die Sam und mir besser taugt. Außerdem habe ich schon zugesagt.«
Sie befürchtete schon, er würde nachhaken, aber er zuckte nur mit den Schultern. »Aber die einwöchige Kündigungsfrist halten Sie schon ein, oder nicht? Schließlich müssen wir noch Ersatz für Sie finden.«
Sie konnte nicht Nein sagen, und jetzt, da sie nicht mehr im Freien war, ging es ihr ja gut. Ein Woche müsste zu schaffen sein. Immerhin hatte sie fünf Jahre hier gearbeitet und ihnen viel zu verdanken. Sie ließ ihren Mantel im Büro und ging zum Ladentisch, um den ersten Schwung Hemden anzunehmen; dann half sie Annie beim Fertigmachen der ersten Trommel.
»War ja wieder mal mächtig was los am Wochenende, oder?«, sagte Annie, als sie den ersten Container von hinten hereinrollte.
»Wieso? Was ist denn passiert?«
»Hast du keine Fernsehnachrichten gesehen? Die Zeitungen sind auch voll davon gewesen. Teile des Parks sind noch immer abgesperrt.«
»Ich war krank und habe den Fernseher überhaupt nicht eingeschaltet.«
»Jim musste am Freitag spät abends ausrücken, und er war erst nach dem Frühstück wieder zurück. Der reine Wahnsinn, wenn du mich fragst.« Annie schüttelte den Kopf, während sie den nächsten Leinenbeutel mit Hemden vollstopfte. »Die Polizei spricht von einem Bandenkrieg. Aber es ist alles so seltsam. Einer wurde an der Straße aufgefunden, ein anderer drüben bei den Tennisplätzen. Wieder ein anderer hat eine Pistole einfach durch das Fenster eines Hauses an der Reinhard Avenue geschmissen. Das hat die Polizei erst auf den Plan gebracht.«
»Wurden sie getötet?«
»I wo! Man hat sie schwer verletzt in die Klinik gebracht. Einer der beiden hat davon gefaselt, der Leibhaftige persönlich habe sie attackiert. Man vermutet, dass er was genommen haben musste.« Sie warf den vollen Beutel in den Container. »Machst du den Rest? Ich muss telefonieren.«
Stella kümmerte sich um die übrige Wäsche, während sich in ihrem Kopf alles überschlug. Das mussten Johnny Day und Warty gewesen sein. Was hatte ihr doch Justin noch mal über den pfleglichen Umgang mit Sterblichen erzählt? Nicht dass sie allzu viel Mitleid mit Johnny oder Warty gehabt hätte. Immerhin hatten die beiden sie erschossen und sie hatten versucht, Justin umzulegen. Allmählich bekam sie Kopfschmerzen. Sie würde versuchen, eine alte Zeitung zu ergattern, und später mit Justin darüber reden. Jetzt, da die Hemden so weit fertig waren, musste sie sich erst einmal um die für die chemische Reinigung bestimmten Sachen kümmern.
Einige Stunden später dröhnte ihr der Kopf, die Gelenke taten ihr weh, und sie sehnte sich nach einem ruhigen Plätzchen, an dem sie sich hinlegen und schlafen konnte.
Dixie und Justin hatten nicht gelogen. Ihre Kräfte reichten einfach nicht aus, um tagsüber zu arbeiten, und dabei hatte sie sich für eine ganze Woche verpflichtet. Vielleicht sollte sie ja doch einen Rückzieher machen und Mrs Lynch sagen, dass er ihr leid tue, aber sie könne nun einmal nicht und …
»Hallo.«
Sie hatte einen Kunden. Aufpassen war also angesagt. Sie schrieb den Bon heraus, musste sich aber den Namen zweimal buchstabieren lassen. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn sie normalerweise nicht verdammt genau gewusst hätte, wie man Brown schreibt. Er sah sie irritiert an, als sie ihm sagte, die Sachen seien morgen, Donnerstag, fertig; und ihm wäre beinah das Kinn heruntergefallen, als sie ihn fragte, ob er seine Hemden gewaschen und auch gestärkt haben wolle. Sie wäre nicht erstaunt gewesen, wenn er fluchtartig das Weite gesucht hätte, aber er händigte ihr noch seine Rabattgutscheine aus und ließ sie ausdrücklich wiederholen, seine Sachen seien morgen, Dienstag, fertig. Er warf ihr noch einen besorgten Blick zu und verließ den Laden.
Als sie die Hemden wegräumte, entdeckte Stella plötzlich die Brieftasche des Kunden vor sich. Ohne groß zu überlegen, griff sie danach und schwankte mit wackeligen Beinen hinaus ins helle Tageslicht. Der Mann sperrte gerade seinen Wagen auf. »Sie haben Ihre Brieftasche vergessen«, rief sie und machte ein paar Schritte auf ihn zu. Dann begann sich alles um sie herum zu drehen, und sie merkte nur noch, wie sie zusammenbrach.
»Justin, hilf mir doch!«, war ihr letzter Gedanke. Dann versank sie in Nacht und Kälte.
* * *
»Stella!« Justin schnellte hoch. »Sie ist in Not«, rief er Kit zu.
»Wo?«
Justin fokussierte seine Sinne. »Irgendwo jenseits des Parks.« »Kann nur die Wäscherei sein, wo sie arbeitet«, sagte Dixie, »an der Thurman Avenue.«
Justin versuchte sich in Stellas Bewusstsein einzuklinken. Vergeblich. »Ich muss sofort zu hier. Ihr bringt das Auto hinterher.«
Ehe Kit antworten konnte, war Justin schon zur Tür hinaus und in Vampirgeschwindigkeit losgerannt, ein verschwommener Schatten für alle, die ihn sahen. Diskretion hin oder her! Stella war in Not.
Hinter dem Park verlangsamte er sein Tempo und lief wie ein Normalsterblicher weiter. Kaum hatte er die nächste Ecke passiert, sah er den Laden auch schon. Eine Menschenmenge stand um Stella herum, die auf dem Gehsteig lag. Alle Vorsicht und Diskretion missachtend, ließ er sie telepathisch zurückweichen.
Eine Frau, über Stella gebeugt, rief immer wieder ihren Namen, und ein grauhaariger Mann stand da und sagte: »Hätte sie doch bloß gesagt, dass es ihr nicht gut geht.«
Justin trat neben die besorgt wirkende Frau, hob Stella in seinen Armen hoch und trug sie zum Schutz vor der Sonne in den Laden.
»Wer sind Sie denn?«, fragte der Mann.
»Ein Freund von Stella und Arzt.« Das letzte Wort wirkte wahre Wunder. »Mein Name ist Corvus. Justin Corvus«, fügte er hinzu, als er Stella auf einen Stuhl setzte und ihr leeres Bewusstsein für seines öffnete.
»Justin?« Sie lächelte ihm zu. »Ich wusste, dass du kommst.«
Er fühlte, wie sich sein Herz bei ihren Worten zusammenkrampfte, eigentlich unmöglich, aber so war es. Stella fiel in Bewusstlosigkeit zurück, aber er zwang sie, aufzuwachen. Am Ende käme noch irgendein Sterblicher auf die Idee, ihren Puls zu fühlen. Er wandte sich der besorgten Frau neben ihm zu. »Könnten Sie ihr ein Glas Wasser holen?«
»Natürlich.« Sie eilte davon, sodass Justin sich nur mehr um den älteren Herrn kümmern musste.
»Sie muss wohl hinausgelaufen sein, um einem Kunden die Brieftasche zurückzugeben, und dabei ist sie in Ohnmacht gefallen.«
Wie konnte sie nur! Sich einfach der hellen Sonne aussetzen wie eine Normalsterbliche oder ein Großvampir! Er würde verdammt dafür sorgen, dass das nicht so schnell wieder vorkam. »Sie hat sich schon das ganze Wochenende nicht wohlgefühlt, vielleicht eine Grippe«, log Justin. Nun, zumindest der erste Teil entsprach durchaus der Wahrheit. »Sie hätte erst gar nicht arbeiten gehen dürfen und muss dringend ins Bett.«
Der Mann wirkte ernstlich besorgt. In diesem Moment kam Stellas Kollegin mit einem Glas Wasser zurück. »Glauben Sie denn, sie kann fahren?«, fragte er.
Vor Sonnenuntergang sicher nicht. »Nein, aber ich werde sie nach Hause bringen.« Der Mann wirkte nun wirklich sehr besorgt.
»Ich glaube, vielleicht …«, wandte er ein.
Justin gab jeden Versuch auf, Normalität vorzutäuschen. Er belegte die beiden mit einem Zauber und pflanzte die Vorstellung in ihr Bewusstsein, Stella sei krank und würde in absehbarer Zeit nicht wieder zur Arbeit zurückkommen. In dem Moment, als er sie hochhob, fuhr Kit mit dem Wagen vor und kam, mit einer Decke über dem Arm, in den Laden. Nachdem sie Stella darin eingehüllt hatten, legte sie Justin Kit in die Arme, der sie auf den Rücksitz bettete. In der Zwischenzeit entfernte Justin den Zauber, wünschte den beiden Sterblichen einen guten Tag und verließ das Geschäft.
Stella begann sich bereits nach wenigen Kilometern Fahrt wieder zu erholen. Sie schob die Decke beiseite und sah sich um. »Was ist passiert?«
»Du hast dich nicht an unsere Abmachungen gehalten.« Justin war so erleichtert, nach all der Sorge, dass er das Funkeln in ihren Augen übersah. »Ich habe dir doch gesagt, zu Hause zu bleiben und nicht zur Arbeit zu gehen. Um Abels willen!«
Die Erleichterung und die Freude, ihn zu sehen, waren wie weggeblasen. Sie sah ihn finster an. »Ich hör dir ja schon zu. Ist auch nicht allzu schwer, wenn du so schreist.«
Hatte er geschrien? Vielleicht. »Stella, du kannst bei Tageslicht nicht das Haus verlassen. Das haben wir dir doch ausdrücklich gesagt. Warum hörst du denn nicht auf uns?«
Sie wollte darauf antworten, konnte aber nicht vor Wut. »Warum kannst du es nicht lassen, dich in mein Leben einzumischen? Dass mir die Sonne nicht guttut, hast du mir oft genug gesagt. Glaub mir, so schnell vergesse ich das nicht wieder.« Sie schaute aus dem Fenster. »Kit, wohin fahren wir?«
»Ich bring dich zu uns.«
»Nein!« Sie fuhr ihn regelrecht an. »Bitte«, sagte sie dann, sichtlich um Fassung bemüht. »Bring mich nach Hause.«
»Wie du willst.« Er bremste herunter, um an der nächsten Ecke rechts abzubiegen.
»Kommt nicht in Frage, Kit«, herrschte Justin ihn an. »Ich werde verdammt noch mal dafür sorgen, dass sie drinnen bleibt, und zwar eine Woche lang!«
»Dazu bin ich auch ohne dich in der Lage!« Sie lehnte sich nach vorn. »Nach Hause, bitte, Kit«, sagte sie und sah Justin entsprechend finster an. »Wenn ich schon Hausarrest habe, dann will ich bei meinem Sam sein.«
Kit wendete den Wagen ohne Justins Widerrede. So wie Stella sich verhielt, war damit zu rechnen, sie würde zu Fuß nach Hause gehen, wenn er nicht nachgab. Er würde einfach mit ihr ins Haus kommen und sie notfalls einsperren.
»Den Teufel wirst du tun!«, sagte Stella. In seiner Sorge hatte er vergessen, seine Gedanken abzuschirmen.
Stella hingegen hatte überhaupt nicht die Absicht, irgendetwas zu verschleiern. Ihr Bewusstsein war weit geöffnet. »Sobald ich zu Hause bin, werde ich mich hinlegen. Alleine. Und wenn Sam nach Hause kommt, werde ich ihn wie gewohnt bereits erwarten.« Deutlicher hätte sie sich nicht ausdrücken können, selbst wenn sie es an den Himmel geschrieben hätte.
Die Sonne schien noch, als Kit an ihrer Einfahrt vorfuhr. »Ich decke dich wieder zu und bring dich rein«, sagte Justin.
Beinahe hätte sie ihm widersprochen, aber die Eindrücke der letzten Nacht waren zu stark. Sie ließ es zu, dass er sie zudeckte und bis zur Haustür trug. »Danke«, sagte sie, als er aufschloss und sie herunterließ. Sie lächelte. »Das ist ernst gemeint.«
Nur leider musste er wieder alles zerstören, indem er noch eins draufsetzte. »Ich bleibe hier, um sicher zu sein, dass du dich auch wirklich hinlegst.»
»Untersteh dich! Ich kann alleine ins Bett gehen, und ich geh auch in der nächsten Zeit garantiert nicht wieder in die Sonne!«
»Du wirst trinken müssen, um deine Kräfte wieder aufzufrischen.«
»Dann soll mir Dixie bitte schön einen Blutbeutel vorbeibringen. Und jetzt tschüs.«
Ehe sie ihre letzten Kräfte mobilisierte und ihn Hals über Kopf hinauswarf, ging er lieber freiwillig. Da stand er also nun, fassungslos, vor verschlossener Tür. Er war ein Großvampir, verdammt noch mal, und war soeben von einem Frischling an die Luft gesetzt worden. Von wegen, Dixie solle einen Blutbeutel vorbeibringen! Stella würde mit ihm heute Abend auf die Pirsch gehen, ob sie wollte oder nicht.
»Da hast du dich eben nicht mit Ruhm bekleckert, alter Junge«, sagte Kit auf der Rückfahrt. »Hast sie echt in Rage gebracht.«
»Danke für die schönen Worte, aber ich verzichte.«
»Tolle Frau übrigens, diese Stella, und sie traut sich was, wie Dixie«, fuhr Kit fort. »Man muss nur vorsichtig sein, was man zu ihnen sagt. Mit einem ›bitte‹ erreicht man in der Regel mehr als mit starren Vorschriften.« Justins Schnauben schien er zu überhören. »Dixie kennt ein altes Sprichwort aus den Südstaaten: ›Mit Honig fängt man mehr Fliegen als mit Essig.‹ Trifft irgendwie auch auf Frauen zu.«
Justin schäumte vor Wut, und auch die Tatsache, dass Kit eigentlich recht hatte, half ihm kein Jota weiter. »Sie hat mir einen Riesenschrecken eingejagt, verdammt noch mal! Einen schrecklichen Moment lang glaubte ich schon, es sei zu Ende mit ihr.«
»Stella war sicherlich genauso erschreckt. Noch gestern Nacht halb bis Cincinnati gerannt und zurück, inklusive Zwischenaufenthalt für ein nettes Schäferstündchen, und heute kann sie keine drei Schritte die Straße entlanglaufen. Ein ziemlicher Schock, würde ich mal sagen.«
»Glaubst du, ich habe mich wie das letzte Arschloch benommen?«
»Wahrscheinlich hätte ich genauso gehandelt, aber ich schlage doch vor, du verpackst den Blutbeutel als Geschenk und schickst ihn ihr mit einem Strauß Blumen vorbei.«
Notfalls würde er auch den ganzen Blumenladen aufkaufen. »Warum bin ich eigentlich so ausgerastet?«, fragte er mehr sich selbst als Kit.
Was Kit jedoch nicht abhielt. »Weil du blind warst vor Schreck. Du kannst ohne Stella nicht leben, Justin, so wie ich nicht leben kann ohne Dixie.« Er lachte leise auf. »Besser du gewöhnst dich langsam an den Gedanken.«
Das würde er ja, sollte Stella überhaupt noch was von ihm wissen wollen. Er hatte ihr Befehle erteilt und über sie bestimmt wie über einen ärztlichen Gehilfen aus lange vergangenen Armeetagen. Honig statt Essig. Gute Idee! Nur schade, dass Stella keine Süßigkeiten mehr aß und natürlich auch keine Schokolade mehr, der Dixie immer noch voller Sehnsucht hinterhertrauerte.
»Was zum Teufel will der denn hier?« Kits genervte Frage ließ Justin aufhorchen. Lässig an Kits Gartentor gelehnt stand Vlad Tepes, die Gestalt, die Justin in diesem Moment am allerwenigsten sehen wollte. »Wir werden’s erfahren«, sagte Kit, als er den Motor abstellte. »Muss mit Stellas Willkommensempfang zu tun haben.«
Vielmehr wirkte er wie ein Geier, der auf Beute lauert. In London war Vlad erstmals unmittelbar nach einem schweren Zerwürfnis zwischen Justin und Gwyltha erschienen. Sollte er sich nun etwa einbilden, er hätte bei Stella auch nur die geringste Chance, könnte er besser gleich auf direktem Weg und ohne Zwischenstopp zum Trinken zurück nach Transsylvanien verschwinden.